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05. Oktober 2018

Als die Bilder laufen lernten

Diakoniemuseum Rummelsberg zeigt Film über das Altdorfer Wichernhaus von 1927

Anno 1927 machte Altdorf in ganz Deutschland Furore: Die Evangelische Bildkammer Nürnberg ließ im neu gegründeten Wichernhaus den Film „…und hätte der Liebe nicht“ drehen und zeigte ihn im ganzen Deutschen Reich. Der Streifen, der zu den ältesten Sozialdokus der deutschen Filmgeschichte gehört, ist nach fast 100 Jahren erstmals wieder in ganzer Länge zu sehen, und zwar am Mittwoch, 17. Oktober, um 19 Uhr im Diakoniemuseum in Rummelsberg. Der Komponist und Pianist Ulrich Nehls (Erlangen) sorgt für Live-Improvisation am Klavier.

Die Übernahme der einstigen reichsstädtischen Universität durch die Innere Mission im Jahr 1925 hatte für mancherlei Mißtöne gesorgt. Die Universität Erlangen fürchtete die künftige Konkurrenz der orthopädischen Fachklinik, die Stadt Altdorf wehrte sich mit Händen und Füßen dagegen, „…zum Tummelplatz für Anstalten zu werden, die andere Gemeinden abschütteln wollen“. Man trage schon schwer genug an der Nähe zu den Rummelsberger Anstalten, hieß es in einem Protestbrief an die bayerische Staatsregierung – die aber alle Einwände überging und die kostbare Immobilie für vorerst 30 Jahre dem Landesverein für Innere Mission überließ.

Das 1925 eingeweihte neue „Wichernhaus“ galt wegen seiner Modernität und der ganzheitlichen Betreuungsoptionen als Vorzeigeeinrichtung der Inneren Mission im Bereich der Behindertenhilfe im ganzen Deutschen Reich. Es umfasste eine klinische Abteilung mit etwa 60 Betten, eine Schul- und Werkstättenabteilung mit etwa 80 Betten, Schuhmacherei, Schneiderei und Handarbeitssaal ein Altenheim für „krüppelhafte alte Männer“ mit etwa 60 Betten sowie ein Jugendfreizeitenheim mit etwa 100 Betten.
Es lag also auf der Hand, das Haus zu berücksichtigen, als Anfang 1927 zwischen Berlin und Nürnberg darüber diskutiert wurde, welche Einrichtung der Inneren Mission in Bayern für ein deutschlandweites Filmprojekt geeignet sei. Ein Jahr zuvor hatte die eben gegründete „Evangelische Bildkammer Deutschland“ mit den Filmen „Sprechende Hände“ und „Vom Unsichtbaren Königreich“ überwältigende Erfolge gefeiert: Die Menschen strömten zu Hunderttausenden in die Kirchen und Gasthäuser, wo die Filmvorführer ihre Wanderkino-Apparaturen aufgebaut hatten. „Niemand verließ den Saal, ohne im Innersten erschüttert worden zu sein“, schrieb eine schwäbische Lokalzeitung.

Das hatte zwei Gründe: Erstmals rückte das individuelle Schicksal behinderter Menschen in den Focus der Öffentlichkeit, was einen Meilenstein auf dem langen Weg zur gesellschaftlichen Teilhabe bedeutete. Vor allem aber sahen viele Menschen auf dem Land zum ersten Mal in ihrem Leben bewegte Bilder. Der Wanderkinobetrieb der Evangelischen Bildkammer wurde zum größten Medienerfolg, den man in der bayerischen Landeskirche bis dato jemals erzielt hatte.

1927 beauftragte die Bildkammer Deutschland die Berliner Regisseurin Gertrud David mit der Produktion eines weiteren Sozialfilmes, dessen Schwerpunktthema das neue Wichernhaus sein sollte. Das Drehbuch entwarf der Leiter der Nürnberger Bildkammer, Pfarrer Julius Kelber (1900-1987). Anfang August 1927 fanden die Dreharbeiten statt, schon gut sechs Wochen später wurde der Film in Nürnberg uraufgeführt und in der Wintersaison 1927/28 durch ganz Bayern geschickt – ein heute unvorstellbar enger Zeitrahmen! Kelber musste sich dabei gegen mancherlei weltfremde Ideen aus Berlin wehren. So hatte man dort die Idee gehabt, den Film mit einer Kletterszene im Hochgebirge beginnen zu lassen. Kelber klärte die Berliner Kollegen dann aber auf, dass Bayern nicht nur aus Hochgebirge bestehe – schon gar nicht im evangelischen Franken.

 Die Aufnahmen, schwarz-weiß und ohne Ton, geben faszinierende Einblicke in die Stadt- und Sozialgeschichte der 1920er Jahre: Sie erzählen die Geschichte des „Heinerle von Lindenbronn“, das sich wegen Kinderlähmung in seinem Heimatdorf nur auf allen Vieren  bewegen kann. Die verzweifelte Mutter holt sich Rat beim Dorfpfarrer (gespielt von Christian Nicol, dem Vater des damaligen Rummelsberger Rektors Karl Nicol) und reist schließlich per Dampfzug nach Altdorf. Die Kamera verfolgt sehr ausgiebig den Weg der beiden vom Bahnhof durch die Stadt bis zum Wichernhaus, den dortigen Empfang, die Untersuchung, die Anpassung einer Prothese und schließlich den großen Moment in Heinerles Leben, der dank Prothese auf einmal laufen lernt. Zu sehen sind auch die Wichernhaus-Werkstätten, der einstige botanische Garten, eine Ausflugsfahrt der Heimkinder nach Burgthann und Rummelsberg und zahlreiche andere Impressionen aus der längst untergegangenen Kleinstadt-Welt. 

Als Vorfilm zeigten die Wanderkino-Vorführer einen Kurzfilm über die Einweihung der Rummelsberger Philippuskirche am 29. Mai 1927. Erstmals überhaupt in Deutschland wurde damals die Einweihung eines Gotteshauses in bewegten Bildern festgehalten. 

Dank glücklicher Umstände sind beide Filme, anders als viele andere Streifen aus der Frühzeit des Kinos, im Landeskirchlichen Archiv in Nürnberg erhalten. Das Diakoniemuseum Rummelsberg hat sie für die Ausstellung „Feldlazarett und Wanderkino“ gesichtet und technisch verfügbar gemacht. In der Ausstellung sind Ausschnitte aus sechs verschiedenen Filmen jener Jahre zu sehen, in denen die Bilder laufen lernten.

Museumskino „…und hätte der Liebe nicht“ mit Live-Improvisation durch Ulrich Nehls (Klavier) am Mittwoch, 17. Oktober, 19 Uhr im Diakoniemuseum Rummelsberg. Der Eintritt kostet 7 Euro, wegen der begrenzten Sitzplätze ist eine Voranmeldung unbedingt erforderlich unter buchfink.andrea(at)rummelsberger.net oder telefonisch unter (09128) 50 22 74. ÖZ des Museums: DI, DO und SO von 14 bis 17 Uhr. Führungen an jedem 2. Sonntag im Monat um 14.30 Uhr und jederzeit nach Vereinbarung.

Von: Thomas Greif