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20. Mai 2021

Betroffenheit, Scham und Aufbruch

Rummelsberger Diakonie stellt Untersuchung zur Behindertenhilfe vor

Nürnberg – „Es sollte doch alles besser werden“, lautet der Titel des Buches zur Behindertenhilfe der Rummelsberger Diakonie in den Jahren 1945 – 1995. In einem videogestützten Pressegespräch stellten Vorstandsvorsitzender Rektor Reiner Schübel, Vorstand Dienste Karl Schulz, der Leiter des Auhof in Hilpoltstein Andreas Ammon sowie die Autor*innen, Dr. Sylvia Wagner, Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl und Dr. Karsten Wilke das jüngste Buch der Rummelsberger Reihe vor. „Vieles in diesem Buch schmerzt und löst neben Betroffenheit große Scham aus. Neben der verwerflichen Gabe von Medikamenten haben Menschen, die in unseren Einrichtungen lebten, auch andere Formen von Gewalt erfahren,“ führte Rektor Schübel in das Werk ein. Zu dem Buch gehöre allerdings auch, ohne die schlimmen Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen relativieren zu wollen, die geschilderten Ereignisse in die Zeit einzuordnen, in der sie geschehen seien.

Entschuldigung

Bei allen von Gewalt Betroffenen bat der Vorstandsvorsitzende der Rummelsberger Diakonie herzlich um Vergebung. In einem ausführlichen Diskussionsprozess haben sich die Rummelsberger Verantwortlichen dazu entschieden, in der Betrachtung unterschiedlicher Formen der Gewalt keine Unterscheidung zu treffen. „Gewalt ist immer ein Eingriff in die Persönlichkeit eines Menschen. Wir trauen uns kein Urteil zu, was schwerer wiegt: ob jemand gegen seinen Willen der Freiheit beraubt, in seiner Würde verletzt oder geschlagen wird oder Medikamente verabreicht bekommt,“ sagte der Theologe und fährt fort: „Wir beklagen jede Form der Verletzung von Menschen in unseren Einrichtungen.“ Für Schübel ist eines besonders wichtig: „Unsere Aufgabe heute ist, wach und kritisch zu bleiben, eine Kultur zu schaffen, in der Gewalt kein toleriertes Mittel ist und bleibt.“

Auftrag

Erstmals hatte sich der Vorstand der Diakonie entschieden, die Geschichte der Behindertenhilfe von unabhängigen Wissenschaftler*innen untersuchen und dokumentieren zu lassen. Dazu gab es mehrere Anlässe. Karl Schulz erklärte: „Mit der Gründung der bundesweiten Stiftung Anerkennung und Hilfe für Menschen mit Behinderung im Januar 2017 hat sich die Rummelsberger Diakonie ihrer Verantwortung gestellt und in die Stiftung mit eingezahlt.“ Darüber hinaus, so das Vorstandsmitglied, sei die Anfrage des Bayerischen Rundfunks im November 2017 ein letzter Impuls für die bereits bestehende Absicht der Rummelsberger Diakonie gewesen, die Lebensumstände von Menschen mit Behinderung von unabhängigen Wissenschaftler*innen untersuchen zu lassen. „Der Verdacht, dass in unseren Häusern Medikamententests durchgeführt wurden, hat uns sehr erschreckt,“ sagte Schulz.

Die im Januar 2018 in Auftrag gegebene Untersuchung sollte eine Dokumentation mit einem möglichst umfassenden Überblick darüber liefern, wie Menschen mit Behinderung nach dem Krieg bis in die 1990er Jahre in Rummelsberger Einrichtungen lebten. Mit den Ergebnissen der vorliegenden Untersuchung wird ein bisher nicht erreichter Erkenntnisgewinn über die Geschichte der Rummelsberger Dienste für Menschen mit Behinderung vorgelegt.

Geschichte der Behindertenhilfe

Dr. Karsten Wilke, unter dessen Koordination das Team der Expert*innen für Diakonie-Geschichte arbeitete, befasste sich mit dem Wichernhaus in Altdorf und dem Auhof in Hilpoltstein. Er beschreibt die Entstehung der Arbeit bis zu ihrer Ausgestaltung in den 1990er Jahren. Neben den gesetzgeberischen Grundlagen erläutert der Wissenschaftler medizinische und pädagogische Entwicklungen wie die baulichen Voraussetzungen und Veränderungen. Für die Nachforschungen des Teams waren die Voraussetzungen denkbar ungünstig. „Die Quellenlage in Rummelsberg ist nicht gut,“ bedauert Wilke. Viele Akten seien nach der gesetzlich vorgeschriebenen Aufbewahrungszeit vernichtet worden. So konnte zum Teil nur ein unvollständiges Bild gezeichnet werden.

Es sollte doch alles besser werden

Das tägliche Leben insbesondere auf dem Auhof untersuchten Dr. Ulrike Winkler und Prof. Dr. Hans-Walter Schmuhl. Winkler, die aus terminlichen Gründen nicht an der Buchvorstellung teilnehmen konnte, führte Interviews mit ehemaligen Mitarbeitenden. Aus einem dieser Interviews stammt der Satz: „Es sollte doch alles besser werden.“ Er wurde zum Titel des Buches und bringt den Widerspruch zwischen Wollen und Vollbringen der Mitarbeitenden zum Ausdruck. Zu den Spannungen gehören die Verfehlungen, die aus Überforderung, Unkenntnis, mangelnder Empathie und ähnlichen Gründen zu Schuld gegenüber Menschen geführt hat. Dazu gehört auch, das Mitarbeitende sich erfolgreich bemüht haben, die Lebensumstände der anvertrauten Menschen zu verbessern.

Übergabebücher

Die Sichtweise der Bewohner*innen erforschte Schmuhl. In seinem Kapitel „Die Stimmung auf der Gruppe glich einem Wespenhaufen“ beschreibt er den Alltag und welche Bedeutung Gewalt im Sinne des durch den kanadischen Soziologen Erving Goffman geprägten Begriffes der totalen Institution hatte. Danach zählt der einzelne Mensch in seiner Individualität wenig. Stattdessen werden alle auf das Funktionieren eines Systems, zum Beispiel einer Wohngruppe, ausgerichtet. Schmuhl stützt seine Untersuchung neben Interviews mit Betroffenen auf die am Auhof bewahrten Übergabebücher. Dort wurde der Alltag beschrieben. Auf der kollegialen Ebene wurde so das alltägliche Leben auf einer Wohngruppe an die nachfolgenden Dienste dokumentiert. Den Mitarbeitenden war nicht im Sinn, dass ihre Aufzeichnungen Jahrzehnte später eine überaus authentische und wertvolle Quelle bei der Untersuchung der Lebensumstände auf dem Auhof werden.

 Medikamente

Die Pharmazeutin Dr. Sylvia Wagner hatte sich mit der Gabe des vor der offiziellen Zulassung verabreichten Medikaments Nomifensin sowie der Gabe von Androcur befasst. Sylvia Wagner sagt zu den Ergebnissen ihrer Untersuchung: „Bei der hier gefundenen Praxis ordne ich die Gaben als medikamentöse Gewalt ein.“ Die im Buch beschriebenen Fälle von Medikamentenmissbrauch seien trotz der schlechten Quellenlage sicher nachweisbar. Das Medikament Nomifensin wurde neun Menschen verabreicht. Man erhoffte sich durch die Gabe das Verhalten der jungen Menschen beeinflussen zu können. Sie sollten sozial unauffälliger – pflegeleichter – sein. Mit dem Mittel Androcur wurden nachweisbar zehn Bewohner behandelt. Die Gabe des Mittels führt dazu, dass der Sexualtrieb unterdrückt und letztendlich eine reversible chemische Kastration eintritt.

Aufbruch

Der Leiter des Auhof bei Hilpoltstein, Andreas Ammon, sagte während des Pressegespräches über das Buch: „Die veröffentlichten Untersuchungen helfen den Bewohnerinnen und Bewohnern, die Anträge an die Stiftung Anerkennung und Hilfe stellen wollen. Gemeinsam mit den Case-Manager*innen können sie die Lebensumstände in den Einrichtungen nun wissenschaftlich gestützt gegenüber der Stiftung deutlich machen. Mehrere Bewohner*innen sind bereits anerkannt und haben Geldzahlungen aus dem Stiftungsfond erhalten.“

Darüber hinaus betrachtet Andreas Ammon das Buch als einen Schatz, weil mit dieser Grundlage insbesondere neue junge Kolleg*innen für die Geschichte der Bewohner*innen der Rummelsberger Einrichtungen sensibilisiert werden können. „Die sehr eindrücklichen Schilderungen der früheren Lebensumstände ermöglichen es, manche Verhaltensweise von älteren Bewohner*innen auf mögliche Traumatisierungen zurückführen und besser verstehen zu können“, erklärte Ammon. „Wir haben eine ganze Reihe von begleitenden Aktionen geplant und beginnen mit der Umsetzung,“ So wird ein gelernter Schauspieler, der sich in der Ausbildung zum Heilerziehungshelfer befindet, Lesungen aus dem Buch halten. In offenen Diskussionsrunden können sich betroffene Bewohner*innen, Mitarbeitende, später Angehörige und Hilpoltsteiner Bürger mit der Vergangenheit in den Rummelsberger Einrichtungen der Behindertenhilfe auseinandersetzen – und mit dem, was diese Schilderungen in ihnen auslösen. Ein Kinderbuch entsteht. Unsere Biographie-Arbeit bekommt neuen Aufschwung. „Mit dem Erscheinen des Buches beginnt unsere Arbeit erst,“ sagte der Einrichtungsleiter.

Die Rummelsberger Diakonie e. V. ist einer der großen diakonischen Träger in Bayern. Zur Rummelsberger Gruppe gehören ambulante und stationäre Dienste der Jugend-, Eingliederungs- und Altenhilfe sowie Schulen und Ausbildungsstätten. Insgesamt nutzen täglich rund 13.500 Menschen die diakonisch-sozialen Angebote der rund 6.200 Rummelsberger Mitarbeitenden. In allen sieben bayerischen Bezirken können Rummelsberger Dienstleistungen in Anspruch genommen werden.

Georg Borngässer (8613 Zeichen)

 

Autorinnen und Autoren des Buches

Dr. Hans-Walter Schmuhl, geboren 1957, ist freiberuflicher Historiker, außerplanmäßiger Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaft, Philosophie und Theologie der Universität Bielefeld und stellvertretender Leiter des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Zeitgeschichte, Wissenschaftsgeschichte, Stadtgeschichte und Diakoniegeschichte.

Dr. Sylvia Wagner, geboren 1964, Studium der Pharmazie an der Universität Münster, Promotion zum Thema „Arzneimittelstudien an Heimkindern in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1975“ an der Math.-Nat. Fakultät und dem Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universität Düsseldorf, lebt und arbeitet in Krefeld.

Dr. Karsten Wilke, geboren 1971, Studium der Allgemeinen Geschichte an der Universität Bielefeld, arbeitet freiberuflich als Historiker. Veröffentlichungen zur Geschichte des Nationalsozialismus, zur Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und zur Diakoniegeschichte.

Dr. Ulrike Winkler, geboren 1966, Studium der Politik-, Rechts- und Erziehungswissenschaften, lebt und arbeitet freiberuflich in Trier. Zahlreiche Veröffentlichungen zur Diakoniegeschichte, Zeitgeschichte und Sozialgeschichte.

Bibliographie:

Karsten Wilke / Hans-Walter Schmuhl / Sylvia Wagner / Ulrike Winkler

»Es sollte doch alles besser werden«

Die Behindertenhilfe der Rummelsberger Diakonie 1945 bis 1995

Schriften des Instituts für Diakonie- und Sozialgeschichte an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel 34 und Rummelsberger Reihe 21

2021

ISBN 978-3-7395-1264-8

24,00 €

https://www.buchhandel.de/buch/-Es-sollte-doch-alles-besser-werden--9783739512648

eBuch

ISBN 978-3-7395-1364-5

https://www.buchhandel.de/buch/-Es-sollte-doch-alles-besser-werden--9783739513645

Das Buch über die Rummelsberger Diakonie verbindet bayerische Regionalgeschichte mit der Geschichte der Diakonie, der Geschichte von Menschen mit Behinderungen und Medizingeschichte. Die Rummelsberger Diakonie und die Innere Mission insgesamt erscheinen darin als Schrittmacher und als abhängige Träger staatlicher Sozialpolitik. Der Buchtitel »Es sollte doch alles besser werden« beschreibt die Spannung zwischen dem Wollen derjenigen, die angetreten sind, Menschen mit Beeinträchtigung das Leben zu erleichtern, und den Verfehlungen, die aus Überforderung, Unkenntnis, mangelnder Empathie zu Schuld gegenüber Menschen geführt haben.

Von: Diakon Georg Borngässer

Bei der hybrid angelegten Pressekonferenz zur Buchvorstellung waren nur (v.l.) Andreas Ammon, Leiter des Auhofs, Rektor Reiner Schübel, Vorstandsvorsitzender der Rummelsberger Diakonie, und Karl Schulz, Vorstand Dienste, im Raum. Die Autor*innen und die Vertreter*innen der Presse waren per Videokonferenz zugeschaltet. (Fotos: Arnica Mühlendyck)