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Die Rummelsberger

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06. April 2022

„Es war ein Ringen, es besser zu machen“

Bewohner*innen und ehemalige Mitarbeiter*innen überdenken gemeinsame Vergangenheit am Auhof

Hilpoltstein – Über die Vergangenheit sprechen, um die Gegenwart zu verstehen und die Zukunft zu gestalten. Unter dieses Motto frei nach Helmut Kohl hatte Andreas Ammon den Abend zum Buch „Es sollte doch alles besser werden. Die Behindertenhilfe der Rummelsberger Diakonie 1945 bis 1995“ gestellt. Der Leiter des Auhof kündigte den rund 80 Besucher*innen an, man wolle auch „auf das blicken, was Narben hinterlassen hat bei Bewohnern und Mitarbeitern“. Diese Ankündigung ist wörtlich zu nehmen – schließlich nahmen an dem Abend langjährige Bewohner*innen des Auhof ebenso teil wie Menschen, die im fraglichen Zeitraum am Auhof gearbeitet hatten. Viele haben an den in dem wissenschaftlichen Band herausgearbeiteten Ereignissen noch heute zu tragen.

Im Buch arbeiten die Wissenschaftler*innen Karsten Wilke, Hans-Walter Schmuhl, Sylvia Wagner und Ulrike Winkler anhand der wenigen noch vorhandenen Quellen unter anderem heraus, dass es in manchen Wohngruppen im Auhof in den 1970er-Jahren immer wieder zu Gewalt gekommen ist. Zu Gewalt zwischen Bewohner*innen, zu Übergriffen von Mitarbeiter*innen gegen Bewohner*innen und auch zu Gewalt von Bewohner*innen gegen Mitarbeiter*innen. Im ersten Teil des Abends zum Buch las Mitarbeiter Tobias Kilian, im ersten Beruf Schauspieler, Passagen aus einer der Hauptquellen der Wissenschaftler*innen: den sogenannten Tag- und Nachtbüchern. „Der Abend war einfach schrecklich!!!!! [sic!] Die Kinder waren fürchterlich. Keiner hat gehört. Ein Geschrei war. Um 8.00 [Uhr] waren‘s endlich im Bett.“

Eintragungen wie diese und noch weitaus drastischere waren damals nicht als Dokumentation im heutigen Sinne gedacht, sondern als Hilfestellung für die in der Schicht folgenden Kolleg*innen – und manchmal wohl auch als Ventil für den Frust und die Belastung, die die Arbeit mit behinderten Menschen unter schwierigen Bedingungen bedeutete. „Wir wollen nicht verurteilen, wir wollen verstehen“, betonte Ammon. Zwischen den einzelnen Passagen aus dem Buch spielten Kilian und die beiden Bewohner Hans Gungl und Reinhard Amberg immer wieder Musikstücke. Um das in der Lesung Gehörte gemeinsam zu überdenken und ins Gespräch zu kommen, tauschten sich die Gäste in mehreren Gruppen aus. Hier trafen sich Menschen, die in den 1970er-Jahren als Kinder und Jugendliche am Auhof lebten, damalige Mitarbeiter*innen, Bürger*innen aus Hilpoltstein und Menschen, die heute am Auhof und in Außenwohngruppen tätig sind.

Busfahrt mit unbekanntem Ziel

„Ich musste in Bruckberg in den Bus steigen und wusste nicht, wohin es geht“, erinnerte sich ein Bewohner, der als Fünfjähriger an den Auhof kam. „Eingesperrt“ sei er damals am Auhof gewesen. Er habe auch „Haue“ gekriegt. Er berichtete davon, dass es später in einer anderen Wohngruppe am Auhof besser gewesen sei. Überhaupt habe sich sehr viel geändert im Laufe der Jahrzehnte. Heute genieße er seine Freiheit, alleine hinzugehen und hinzufahren, wohin er wolle. „Ich war sogar eine Woche in Berlin“, berichtete der Rentner.

Diese Entwicklung von stark geschlossenen Einrichtungen mit kaum individuellen Freiheiten für die Bewohner*innen hin zu offenen Wohnformen, bei denen den Menschen Unterstützung geboten, aber nicht aufgedrängt wird, ist kennzeichnend für die gesamte Bundesrepublik. Besonders den ehemaligen Mitarbeiter*innen am Auhof in der Runde war mit Blick auf die 1970er-Jahre ein Aspekt wichtig: „Es war auch eine Zeit des Aufbruchs am Auhof.“ Die damaligen Mitarbeiter*innen seien größtenteils noch „in einem autoritären System aufgewachsen“ und seien insofern auch ein Stück weit „Gefangene ihrer Zeit“ gewesen. „Es war ein Ringen, es besser zu machen“, fasste es eine Frau zusammen.

Ähnliche – teils auch deutlich schärfere Diskussionen – fanden in den anderen Gesprächsrunden statt. Im abschließenden gemeinsamen Teil mit kurzer Andacht betonte Andreas Ammon noch einmal: „Wir denken an alle, wir verdammen keinen.“ Ihm sei es ein großes Anliegen, dass die Menschen, die damals am Auhof gelebt und manches erlitten hätten, heute eine Stimme haben, die gehört werde. Auch um für die heutige Arbeit mit Menschen mit Behinderung zu lernen.

Von: Andrea Höfig-Wismath

Andreas Ammon, Leiter des Auhof, führte mit nachdenklichen Worten in den Abend ein. Tobias Kilian, Schauspieler und Mitarbeiter am Auhof, las Szenen aus dem Buch „Es sollte doch alles besser werden“. Fotos: Andrea Höfig-Wismath