Diakonie im Nationalsozialismus
17. September 2025Rummelsberg/Hesselberg – Mit einer Tagung im Evangelischen Bildungszentrum Hesselberg hat das Forschungsprojekt des Diakoniemuseums Rummelsberg zum Thema „Diakonie und Nationalsozialismus in Bayern“ eine wichtige Zwischenstation erreicht.
Treue bis Kriegsende – und kaum Einsicht danach
Geradezu spektakulär war die erstmalige umfassende Darstellung der NS-Verwicklung des Diakonissen-Mutterhauses Hensoltshöhe bei Gunzenhausen durch den emeritierten Kirchenhistoriker Bernd Brandl aus Bad Liebenzell. Die Hensoltshöhe stellte sich, wie viele andere protestantische Einrichtungen, im nationalen Taumel des Frühjahres 1933 auf die Seite der braunen Bewegung. Ausgerechnet auf dem Höhepunkt des bayerischen Kirchenkampfes – Landesbischof Hans Meister befand sich noch im Hausarrest – empfing man „Frankenführer“ Julius Streicher mit großem Bahnhof und ermöglichte dem selbsternannten „größten Antisemiten aller Zeiten“ eine Rede in der überfüllten Zionshalle.
Die über 1000-köpfige Schwesternschaft um Rektor Ernst Keupp hielt Hitler bis zum Kriegsende unverbrüchlich die Treue. Man hatte sich vorgenommen, der Welt zu zeigen, „dass Nationalsozialismus und Christentum eben doch zusammenpassen“, resümierte Brandl: „Sie haben sich dabei aber völlig verrannt und auch später nicht die Kraft gehabt, ihr Versagen einzusehen.“ Oberin Anna Kolditz lehnte nach 1945 den Rücktritt unter Hinweis auf ihren von Gott gegebenen Auftrag ausdrücklich ab.
Trotz des ideologischen Schulterschlusses mit den Nationalsozialisten verstand es Keupp, zwei jüdische Schwestern dem mörderischen Zugriff des Staates zu entziehen. In der Trinkerheilstätte Hutschdorf in Oberfranken kamen zwar 1940 die Erfassungsbögen der NS- „Euthanasie“ an. Doch nach heutigem Forschungsstand landete kein Heimbewohner in den Gaskammern des „Dritten Reiches“. „Im konkreten diakonischen Alltag sahen Dinge dann doch anders aus als im ideologischen Lehrbuch“, sagt Brandl.
NS-‚Euthanasie‘ im Fokus der Tagung
Ebenjene NS-„Euthanasie“ war ein weiterer Tagungsschwerpunkt. Matthias Honold, Archivar von diakoneo in Neuendettelsau, skizzierte die dortige Verwicklung der Diakonissenanstalt in die Tötungsmaschinerie. Von etwa 1700 Patienten in den fünf Heimen für geistig behinderte Menschen wurden etwa 1200 in staatliche Anstalten abtransportiert; etwa 900 Menschen kamen um, die meisten von ihnen in der Tötungsanstalt Hartheim bei Linz. Projektleiter Dr. Thomas Greif verlas ein Referat des jüngst verstorbenen Historikers Hans Rößler aus Neuendettelsau, der sich in seiner letzten Arbeit nochmals mit dem Neuendettelsauer Anstaltsarzt Rudolf Boeckh beschäftigt hatte. Boeckh hatte die Entscheidung, ob ein schwer beeinträchtigter Mensch überhaupt ein Lebensrecht habe, dem „Führer“ Adolf Hitler zugesprochen und folgerichtig dem Tötungsapparat des NS-Staates keinen inhaltlichen Widerspruch entgegengesetzt. Rößler betont: „Die NS-Euthanasie brach nicht wie ein Unwetter über die kirchlichen Anstalten herein, sondern wurde von Mitarbeitern dieser Anstalten schon Jahre vorher geistig vorbereitet.“
In einem weiteren Referat von Andrea Erkenbrecher (EBZ Hesselberg) und Katrin Kasparek (Bezirk Mittelfranken) kamen die tragischen Lebensgeschichten zweier mittelfränkischer Kinder zur Sprache, die wegen diagnostizierter „Bildungsunfähigkeit“ im Alter von neun und zwölf Jahren in die Gaskammern geschickt wurden. Es gehört zu den ausdrücklichen Zielen des Forschungsprojektes, die Aufmerksamkeit auch auf die Opfer jener Jahre zu richten – nicht nur in Zahlen und Statistiken, sondern mit individuellen Biographien.
In diesem Sinne stellte Babette Müller-Gräper, Leiterin des Lernortes Diakoniedorf Herzogsägmühle, drei Opfer der NS-Gesundheitspolitik vor. So wurden etwa die Arbeiter Josef Mair, Wilhelm Zorichta und Nikolaus Ebner wegen vermeintlicher mangelhafter Sozialisierbarkeit kurzerhand ermordet. Sie gehören zu einer Gruppe von über 400 Personen, die im NS-Wanderhof Herzogsägmühle ab 1936 den Tod fanden. Zu diesem Zeitpunkt hatte die Innere Mission allerdings ihre gesamte Wandererarbeit bereits an staatliche Institutionen abgegeben.
Zwischen NS-Staat und diakonischem Auftrag
Forschungsneuland betrat auch die Trierer Sozialhistorikerin Dr. Ulrike Winkler, die gemeinsam mit Museumschef Greif die Tagung leitete. Anhand von akribisch ausgewerteten Personalakten ging Winkler der Frage nach, wie es Diakonen, die ja versprochen hatten, ihr Leben in den Dienst der Menschlichkeit zu stellen, als aktiv Beteiligten eines Vernichtungskrieges erging. Winkler fand kaum Hinweise auf ideologische Begeisterung, sondern eher allgemeinen Patriotismus und vor allem eine feste Selbstverankerung in der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre. Hier konnten sich die Diakone ihrer „Berufung“ auch dann sicher sein, wenn sie im weltlichen Teil der Gesellschaft, etwa im Kriegsdienst, wirkten – denn schließlich war ja auch die Obrigkeit gottgewollt. „Fragen nach persönlicher Verantwortung wurden kaum gestellt, das Menschsein des fremden Nächsten wurde ausgeblendet“, so Winkler.
Der Berliner Sozialhistoriker Dr. Uwe Kaminsky skizzierte das Ringen zwischen Staat und Innerer Mission um die Kinder- und Jugenderziehung. Tatsächlich gerieten im Laufe der 1930er Jahre mehrere große Erziehungshäuser wie der Fassoldshof bei Kulmbach oder der Puckenhof bei Erlangen unter braune Führung. An staatlichen Maßnahmen wie etwa der Sterilisation von Jugendlichen nach den Vorgaben des „Gesetzes zur Verhinderung erbkranken Nachwuchses“ beteiligten sich aber auch alle anderen (kirchlich gebliebenen) Häuser. Vielfach sei man ideell gar nicht so weit auseinander gewesen, sagte Kaminsky: „Autoritäre Führung, Rassismus und Unterdrückung standen nirgends zur Debatte.“
So aktuell wie nie zuvor
Immer wieder kam die schmerzliche Aktualität der Themen zur Sprache. Kirchenrätin Bettina Naumann (evangelische Landeskirche), Dr. Leonie Krüger (Diakonie Bayern) und Diakonin Christine Meyer (Rummelsberger Diakonie) mahnten zur gesellschaftlichen Wachsamkeit in Fragen von gesellschaftlicher Gleichberechtigung, sozialer Förderung oder Umgang mit Minderheiten. „In der NS-Zeit dauerte es vom Hate-Speech am Stammtisch bis zur Installierung der Gaskammern kaum eine Generation“, sagte Meyer. Die Frage nach dem Wert jedes menschlichen Lebens sei immer aktuell, und der Blick in die NS-Zeit offenbare, wie eine Gesellschaft in dieser Frage entgleisen könne.
An dem Forschungsprojekt arbeiten etwa 25 Fachleute aus ganz Deutschland mit. Die Ergebnisse sollen in einem Forschungsband veröffentlicht und Grundlage der neuen Ausstellung im Diakoniemuseum Rummelsberg werden. Die Eröffnung ist für April 2026 geplant.
